Das geplante Integrationsgesetzt spaltet. Wir brauchen einen "Integrationsvertrag für alle"

Das Integrationsgesetz, das die Bundesregierung vorschlägt, ist ein Rückschritt in die 1980er Jahre. Damals prägten Misstrauen und Einschränkungen das Reden über Einwanderung. Die Gesellschaft wurde in Migranten und Deutsche unterteilt, und Integration galt als ein einseitiger Prozess, der von Einwanderern und ihren Nachkommen erbracht werden musste, wobei die Nachweishürden stetig erhöht wurden.

Wir dachten, wir seien inzwischen gereift an der Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, in dem demokratische Grundrechte auf Basis des Grundgesetzes für alle gelten – gleich welcher Herkunft, Religion oder Kultur. Diese Vielfalt, die sich auf Basis des Grundgesetzes zu einer Einheit formieren kann, ist politisch nicht eindeutig als Leitbild kommuniziert und in die Gesellschaft hineingetragen worden. Rechtspopulistische Parteien haben daher die Vielheit zu einer Bedrohungskulisse aufbauen können und versprechen eine Reduktion der Unübersichtlichkeit, die zwar emotional verfängt, aber real nur durchsetzbar wäre, wenn es massive Einschnitte in das Grundgesetz und die demokratische Verfasstheit dieses Landes geben würde. Die zunehmenden Positionsgewinne rechtspopulistischer Parteien sind bedrohlich für unsere Demokratie. Es gilt daher eine konstruktive Antwort auf die Frage zu formulieren: „Wie wollen wir zusammenleben?“ 

Der Entwurf eines Integrationsgesetzes, der nun vorgelegt wurde, ist kein Lernfortschritt. Er ist getragen von Misstrauen und vorauseilenden Vorverurteilungen. Das geplante Gesetz bringt Verbesserung für eine möglichst schnelle Eingliederung von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt. Das ist positiv. Es enthält aber auch viele neuerliche Verschärfungen: Gefordert werden zusätzliche Leistungskürzungen, Sanktionsdrohungen oder die europarechtlich fragwürdige Wohnsitzzuweisung. Es ist deshalb absurd, dieses Gesetz als historische Errungenschaft zu bewerten. Der Unterstellung von der mangelnden Integrationsbereitschaft der Geflüchteten steht die Tatsache entgegen, dass die Nachfrage nach Integrationskursen höher ist als das Angebot, dass die Kriminalitätsdaten nicht höher sind als die der Allgemeinbevölkerung, dass die Vorstellung von einem guten Leben uns alle gleichermaßen antreibt. 

Ein gemeinsamer Integrationsvertrag sollte stattdessen das Zusammenleben in der bereits bestehenden kulturell vielfältigen Einwanderungsgesellschaft gemeinschaftlich regeln und dabei zentrale Desintegrationsmechanismen wie mangelnde Arbeit, mangelnden Wohnraum, mangelnde Perspektiven und vor allen Dingen die immer weiter aufgehende Schere zwischen Arm und Reich als strukturelle Integrationshemmnisse in den Fokus nehmen - anstatt immer wieder fadenscheinige kulturelle Gründe nach vorne zu schieben. Es sollte zeigen, dass nicht nur Neuzuwanderer, sondern auch die Alteingesessenen - also wir alle – aber vor allem das politische System, Institutionen, Verwaltungseinheiten und Kommunen dazu beitragen müssen, Chancengleichheit, Aufstiegsmöglichkeiten und eine interkulturelle Öffnung verkrusteter Strukturen zu fördern. Es gibt bereits drei Bundesländer in Deutschland, die diesen Weg eingeschlagen haben: Baden-Württemberg, Berlin und Nordrhein-Westfalen. Warum kann sich die Bundesregierung nicht hieran orientieren? 

Das wäre die richtige Antwort auf die Rechtspopulisten und ein substantieller Schritt hin zu einem echten Einwanderungsgesetz. Für dieses Einwanderungsgesetz, das von einem gemeinsamen Integrationsvertrag flankiert werden muss, brauchen wir endlich ein Bundesministerium für Migration und Integration, das die zentrale Zuständigkeit für die Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland übernimmt. Solange das Bundesinnenministerium mit seiner Orientierung an Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr das führende Ressort für diese Themen bleibt, werden wir nie den institutionellen Aufbruch in die Einwanderungsgesellschaft schaffen. 

Für einen gemeinsamen Integrationsvertrag brauchen wir eine Rückbesinnung auf zentrale Ideen des Grundgesetzes: Würde, Gleichheit und Solidarität sollten als Zielmarken eines solchen Vertrags formuliert werden und eine gesellschaftliche Debatte über ein Staatsziel „Vielfalt, gleichberechtigte Teilhabe und Integration“ angestoßen werden.

Der vorliegende Gesetzesentwurf sollte verhindert oder verbessert werden. Das geht nicht innerhalb weniger Tage oder Wochen. Das braucht Zeit und eine echte Beteiligung von Wissenschaft, Bürgergesellschaft, Migrantenselbstorganisationen und Verbänden. Die Alternative wäre, stattdessen gleich das tatsächlich fehlende große „Gesetz über Einwanderung, kulturelle Vielfalt und Integration durch Teilhabe“ zu wagen. 

Noch ist es nicht zu spät. Wir brauchen ein Gesetz, das von der Zukunft her denkt!

Die Initiatoren stellvertretend für die Erstunterzeichner:
Georg Diez, Journalist und Autor, Berlin 
Farhad Dilmaghani, Vorsitzender DeutschPlus e.V., Berlin
Prof. Dr. Naika Foroutan, Sozialwissenschaftlerin, Berlin 
Prof. Dr. Werner Schiffauer, Vorsitzender Rat für Migration, Frankfurt an der Oder

Dieser offene Brief wird unterstützt vom „Rat für Migration“ sowie „DeutschPlus – Initiative für eine plurale Republik e.V“ und „Neue deutsche Medienmacher e.V.“ als Träger der „Neuen deutsche Organisationen“.

Weitere Erstunterzeichner: 
Prof. Dr. Klaus J. Bade, Migrationsforscher
Prof. Dr. Harald Welzer, Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung „Futurzwei“ 
Prof. Dr. Armin Nassehi, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Soziologie
Prof. Dieter Kosslick, Kommunikationswissenschaftler 
Prof. Dr. Hans Vorländer, Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte TU Dresden
Prof. Dr. Rolf Schieder, Humboldt-Universität zu Berlin, Theologische Fakultät
Cilly Kugelmann , Stv, Direktorin, Museum- und Programmleiterin Jüdisches Museum
Maxim Biller, Schriftsteller und Kolumnist
Lars Kraume, Regisseur
Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin
Prof. Sabine Hark, Soziologin
Clemens Schick , Schauspieler
Dr. Carolin Emcke, Publizistin
Prof. Dr. Paul Mecheril, Erziehungswissenschaftler
Mavie Hörbiger, Schauspielerin
Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba, Direktor des Instituts für empirische Migrations- und Integrationsforschung der Humboldt-Universität
Prof. Dr. Thomas Faist, Soziologe
Prof. Dr. Felix Ensslin , Staatliche Akademie der Bildenden Künste
Prof. Dr. Andreas Zick, Konflikt- und Gewaltforscher
Lamya Kaddor, Islamwissenschaftlerin und Publizistin
Sheila Mysorekar Vorsitzende Neue deutsche Medienmacher e.V.
Pegah Ferydoni, Schauspielerin
Dr. Mark Terkessidis, Journalist, Autor und Migrationsforscher
Prof. em. Dr.phil. Dr. h.c.rer.pol. Dieter Oberndörfer, Vorsitzender Arnold Bergstraesser Institut e.V. an der Universität Freiburg
Züli Aladag, Regisseur
Murat Suner, Publizist
Igor Levit, Pianist
Prof. Arno Brandlhuber, Architekt
Prof. Dr. Helma Lutz, Soziologin
Prof. Dr. Berndt Ostendorf Professor em. für Nordamerikanische Kulturgeschichte, Ludwig Maximilians-Universität München
Jagoda Marinic, Autorin
Dr. Manuela Bojadžijev, Kulturwissenschaftlerin
Prof. Dr. Georg Ruhrmann, Kommunikationswissenschaftler
Imran Ayata, Schriftsteller
Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu, Erziehungswissenschaftlerin
Prof. Dr. Ursula Neumann, Erziehungswissenschaftlerin
Prof. Dr. Iman Attia, Rassismusforscherin
Dr. Johannes Eichenhofer Rechtswissenschaftler und stv. Vors. DeutschPlus e.V.
Breschkai Ferhad, Koordinierungsstelle Neue Deutsche Organisationen
Necati Öziri, künstlerischer Leiter Studio я im Maxim Gorki Theater 
Moritz Rinke, Schriftsteller

Weitere ErstunterzeichnerInnen sind auf ZeitOnline veröffentlicht

Im Namen aller Unterzeichner/innen.

Berlin, 05.05.2016