Im September findet die Interkulturelle Woche unter dem Motto "Vielfalt verbindet" statt. Vorab veröffentlichen wir einige Gastbeiträge aus dem Materialheft.

Bei der Feier zum 20jährigen Jubiläum des Menschenrechtszentrums Karlsruhe hat Klaus J. Bade am 10.12.2016 in Karlsruhe den Festvortrag gehalten zum Thema: "Menschenrechte in Gefahr – Flüchtlingskrise, Abwehrhaltungen und Willkommenskultur." Ein Auszug aus seiner Rede. 

 Alles, was wir an Erfahrungen und Potenzialen zur Integrationsförderung haben, muss aktiviert oder reaktiviert werden, damit aus der "Flüchtlingskrise" keine Integrationskrise wird. Im Blick auf diese große Integrationsaufgabe fiel und fällt den Kommunen eine Schlüsselrolle zu. Das gleiche galt und gilt für die Willkommensbewegung von unten in Gestalt des gewaltigen bürgergesellschaftlichen Engagements unter dem Eindruck der Überforderung staatlicher und kommunaler Versorgungseinrichtungen durch den aktuellen Flüchtlingsandrang.

Diese bundesweite Bewegung hat, trotz mancher Überschneidungen, wenig zu tun mit der von oben gestifteten sogenannten Willkommenskultur, die in aller Regel eher Willkommenstechnik ist und, vom Diversity Management in Betrieben abgesehen, vorwiegend zwei Zwecke hatte: Sie sollte Ausländerbehörden in "Welcome-Center" verwandeln und vor allem den in der Tat "willkommenen", gut bis hoch qualifizierten Zuwanderern aus Europa die Integration am Arbeitsmarkt erleichtern.

Sternstunde der Demokratie

Die Willkommensbewegung von unten stand in einer schon längeren Tradition von ehrenamtlichem Engagement, Hilfe, aber auch Protest und wuchs seit dem "Migrationssommer" 2015 rasch zu Millionenstärke an. Sie war und ist, wie der Sozialforscher, Publizist und Aktivist Harald Welzer zu Recht betonte, eine "Sternstunde der Demokratie".

Beobachter aus dem Ausland blickten teils fasziniert, teils erschrocken auf die paradoxe Spannung zwischen dem, was Bundespräsident Gauck das "helle" und das "dunkle Deutschland" genannt hat: Brennende Hilfsbereitschaft traf auf brennende Flüchtlingsheime, während die rechtspopulistische "Alternative für Deutschland" auf Anhieb zweistellige Umfrage- und Wahlergebnisse erreichte.

Umfragen meldeten 2016 ein Sinken der flüchtlingsfreundlichen Positionierungen in der Bevölkerung. Aber auch die zunächst euphorische Stimmung in der bürgergesellschaftlichen Willkommensbewegung selbst ging zurück und die Zahl der praktisch Engagierten schrumpfte.

Stichwort Obergrenze

Eine gewisse Rolle spielte dabei der demotivierende Schock der in den Sensationsmedien zu einem Danteschen Inferno hochgeputschten Nachrichten über die scheußlichen Ereignisse der Silvesternacht 2015 am Kölner Hauptbahnhof und andernorts.

Mitwirkend war sicher auch, dass nach dem heroischen Höhenflug bei der Erstaufnahme nun die Mühen der Ebene begannen mit dem ganz praktischen Wechsel der Aufgabenstellungen je nach individuellem Handlungs- und Beratungsbedarf in der entmutigenden Auseinandersetzung mit oft sperrigen Behörden.

Mitbestimmend waren auch die alarmistischen Positionierungen auf der Unionsachse München/Berlin unter dem Stichwort "Obergrenze".

In die gleiche Richtung wirkten populistische parteipolitische Perspektiven im Vorfeld von Wahlen auf Länder- und kommunaler Ebene und im langen Vorfeld der Bundestagswahl von 2017. Es waren der scheue Blick der parteipolitisch etablierten Kaninchen auf die Schlange der Alternative für Deutschland (AfD) und vor allem die parteitaktisch tänzelnden Verbeugungen nach rechts, die zeigten, dass die besagte Schlange längst um den Kabinettstisch kroch.

Besonders verschärfend wirkte zuletzt ein Bumerang-Effekt: Es war die immer mehr auf Sicherheitspolitik, Gefahrenabwehr und "Härte" gegenüber schutzsuchenden Flüchtlingen setzende "Bewältigung der Flüchtlingskrise" durch die militarisierte Drosselung des Zugangs für Flüchtende in die EU in Drachentöter-Manier. Dahinter stand die strategische Wendung von der Flüchtlingspolitik zur Flüchtlingsabwehrpolitik und von der nur proklamierten "Bekämpfung der Fluchtursachen" zur faktischen Bekämpfung von Flüchtlingen weit vor den Grenzen der Festung Europa in Gestalt der mit dem Stichwort "Externalisierung" umschriebenen Vorverlagerung der europäischen Grenzverteidigung.

Die Kehrseite der Medaille

Das gilt zum Beispiel für Verträge mit selbst Flucht verursachenden brutalen Diktaturen wie in Eritrea und im Sudan – wobei der blutige Diktator des Sudan sogar beim Internationalen Strafgerichtshof wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und international zur Fahndung ausgeschrieben ist. So sehen heute Vertragspartner der EU und damit auch Deutschlands bei der Flüchtlingsabwehr aus.

Damit zeigt sich die dunkle Kehrseite von Angela Merkels "Wir schaffen das"-Medaille. Ihre Botschaft lautet: Wir schaffen es, die Flüchtlinge fernzuhalten, und zwar in einer Mischung von Zuckerbrot und Peitsche. Deutschland und seine Bundeskanzlerin stehen vornean in dieser Abwehrfront.

Dabei bleiben die eigentlichen Ursachen der fluchtgenerierenden Weltkrise außer Acht; denn eine Systemkrise kann man nur mit kritischen Systemfragen angehen. Das hat auch der aus der nichtmarxistischen lateinamerikanischen Befreiungsbewegung stammende Papst in seiner Enzyklika "Laudato si" unverblümt angesprochen. Seine Systemkritik hat er andernorts sogar einmal in die drei mutigen Worte gefasst "Dieses System tötet!".

Vor diesem Hintergrund geht es bürger- bzw. zivilgesellschaftlich um vier große Aufgabenbereiche:

1. helfen          2. retten          3. teilen           4. widerstehen.

1. Wir müssen helfen: Das gilt besonders für die konkreten Hilfestellungen für Flüchtlinge im Alltag, wie es uns die spontane bürgergesellschaftliche Willkommensbewegung von unten gelehrt hat. Sie braucht Fortsetzung, Unterstützung und stete Erneuerung. Jeder/jede kann auf seine/ihre Weise helfen.

2. Wir müssen retten – an und vor den Grenzen der Festung Europa: Hier spielen diverse Bürgerinitiativen mit ihren privaten Rettungsschiffen im Mittelmeer eine wichtige Rolle neben den Booten der Küstenwachen und den vorwiegend für Schlepperjagd und Schlepperbootsversenkung gedachten Marineverbänden, an denen auch Deutschland mit zwei Schiffen beteiligt ist.

3. Wir müssen teilen: Spenden ist gut, aber nicht gut genug; denn die globale Krise kommt – nicht nur, aber eben auch – aus der fortschreitenden postkolonialen, in Wahrheit neokolonialen Ausbeutung der armen durch die reichen Länder der Welt. Nutznießer sind wir alle, bis hin zur Schnäppchenjagd nach Waren, die von unter Hungerlöhnen gestressten Arbeiterinnen oder von zerschundenen Kinderhänden gefertigt wurden.

4. Wir müssen widerstehen: gegen Systeme der strukturellen, institutionellen und strategischen Inhumanität. Das führt unmittelbar zu den weiteren Plänen des neuen Abwehrsystems der EU mit ihren "Migrationspartnerschaften". In dieser Region heißt das: Gerettete Flüchtlinge, die mit libyschen Booten in Seenot gerieten, sollen in libysche Lager deportiert werden.

Solche Internierungslager gibt es dort schon seit dem Berlusconi/Gaddafi-Abkommen (2008) zur Abwehr von in "illegale Zuwanderer" umbenannten Flüchtlingen. Es waren gehobene Konzentrationslager, in denen Gefangene oft unter unsäglichen Bedingungen buchstäblich vergingen, wenn sie nicht in Busse oder Lastwagen gepfercht, irgendwo in der Wüste ausgekippt und dort ihrem oft tödlichen Schicksal überlassen wurden. Nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes wurden diese Lager von konkurrierenden und sich gegenseitig bekämpfenden Milizen übernommen, die sie auch als Geisellager betreiben.

Grundlage des neuen Abwehr- und Lagerkonzepts sollen nunmehr "humanitär" gestaltete, aber in ihrer Funktion gleichgerichtete vertragliche Regelungen zum Beispiel mit einer der libyschen "Regierungen" sein, nämlich mit dem von EU und UN anerkannten "Government of National Accord" (GNA): Die "Regierung" besteht aus einem Präsidenten und einem siebenköpfigen Präsidialrat, der es nicht wagt, die Marinebasis in Tripolis zu verlassen, wo er selber Schutz gefunden hat. Es geht in diesem Falle also um einen Vertrag der Europäischen Union mit einem durch Anerkennung, Geld, Hilfslieferungen und Ausbildungsangebote gefügig gemachten, derzeit noch zögerlichen Marionettenregime.

Der Menschenhändler Gaddafi lässt grüßen. Er war auf furchtbare Weise seiner Zeit voraus und wir treten mit den europäisch-afrikanischen "Migrationspartnerschaften" scheinbar ein Stück weit sein schäbiges Erbe an. Sage später niemand wieder, man habe das alles nicht gewusst. Wir haben es gewusst und wer sich nicht dagegen auflehnt, wird vor der Geschichte und, wenn er Christ ist, auch vor seinem Gott mitschuldig sein.

Es muss dabei nicht um christliche Nächstenliebe gehen. Die profane Beachtung der Menschenrechte genügt; denn der Schutz vor der Gefährdung von Leib und Leben und ein Leben in Würde sind Menschenrechte. Und die deutsche Verfassung schützt bekanntlich nicht die Würde des Deutschen, sondern die Würde des Menschen – gleich wie er aussieht, woher er kommt und an welchen Gott er glaubt.