Der Sozialwissenschaftler Pascal Dengler über die Lehren aus dem NSU-Komplex und die Notwendigkeit eines institutionellen Struktur- und Bewusstseinswandels

Pascal Dengler ist Sozialwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2012 ist er Mitarbeiter von Prof. Dr. Naika Foroutan am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Zu seinen Themenschwerpunkten gehören gesamtgesellschaftliche Integrationsprozesse, die Aufarbeitung und Analyse des NSU-Komplexes, institutionelle Formen von Rassismus sowie der Wandel der Institutionen in der Einwanderungsgesellschaft. Außerdem beschäftigt er sich mit der Verhandlung von Zugehörigkeit und dem gesellschaftlichen Umgang mit Vielfalt, Diskriminierung und Rassismus. Pascal ist Mitglied von DeutschPlus. 

Eine erschreckende Bilanz: Zehn Morde, mindestens zwei Bombenanschläge, bei denen mehrere Personen zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden, sowie mindestens 15 bewaffnete Raubüberfälle. Diese Taten werden dem selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugerechnet. Bereits fünfeinhalb Jahre sind seit der Selbstenttarnung der rechtsterroristischen Vereinigung am 4. November 2011 vergangen. Auch nach zahlreichen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen auf Bundes- und Länderebene scheint die vollständige Aufarbeitung noch lange nicht abgeschlossen zu sein. Während die  Rolle des Verfassungsschutzes sowie die defizitäre, länderübergreifende Zusammenarbeit von Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden bereits in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurden, erscheint die spezifische Ermittlungsarbeit in der aktiven Zeit des NSU noch zu Teilen unterbelichtet. Doch was hat der NSU-Komplex mit der Rolle Deutschlands als Einwanderungsgesellschaft zu tun?

Notwendigkeit einer Kultur der Gleichwertigkeit

Eine demokratische und zukunftsorientierte Einwanderungsgesellschaft ist auf eine wirkungsvolle und authentische Anerkennungs- und Teilhabekultur angewiesen. Um einen nachhaltigen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten, müssen die Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger – unabhängig ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer Hautfarbe sowie weiterer Merkmale – gewährt und geschützt werden. Ungleichbehandlung und Diskriminierung verhindern diese Kultur der Gleichwertigkeit. Das beginnt bei der Einladung zum Bewerbungsgespräch und hört beim Recht auf körperliche Unversehrtheit auf. Ungleichbehandlung aufgrund des Namens, der Hautfarbe sowie der tatsächlichen oder zugeschriebenen Herkunft oder Religion gehören jedoch zum Alltag vieler Menschen in Deutschland. Diese Diskriminierung findet in bewusster oder unbewusster, mittelbarer oder unmittelbarer Ausprägung auf der individuellen, institutionellen und strukturellen Ebene statt.

Die Rolle der Institutionen in der Einwanderungsgesellschaft

Während die empirische Realität der Einwanderungsgesellschaft schon weit fortgeschritten ist, hinken einige Prozesse noch zögerlich hinterher. So lässt sich die Gesellschaft bereits als vielfältig und plural beschreiben, dieser Wandel spiegelt sich jedoch bei weitem noch nicht in ihren zentralen staatlichen Institutionen wider. Derzeit trifft die empirische Vielfältigkeit der Gesellschaft auf eine faktische Ungleichheit, die sich in beruflichen Positionen, Aufstiegschancen und Repräsentationsdefiziten innerhalb der Institutionen widerspiegelt. Staatliche Institutionen – aber auch privatwirtschaftliche und zivilgesellschaftliche – müssen zum Spiegelbild der vielfältigen Gesellschaft werden, um eine resistente und zukunftsorientierte plurale Demokratie gewährleisten zu können. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Verunsicherung, Radikalisierung und antidemokratischer Bewegungen müssen Institutionen als zentraler Demokratiemotor für die plurale Einwanderungsgesellschaft begriffen und adressiert werden.

Der NSU-Komplex als Symptom

In der Aufarbeitung des NSU-Komplexes lässt sich die Notwendigkeit eines institutionellen Struktur- und Bewusstseinswandels am eindrücklichsten erkennen. Väter, Söhne, Brüder und Nachbarn wurden – nicht zuletzt vonseiten Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden – als die Anderen markiert; die Taten vonseiten der Ermittler den Türken und einer sogenannten Ausländerkriminalität zugeschrieben. Die Ermittlungspraxis folgte diesem gesellschaftlich wirkmächtigen Wissen über die Anderen, was eine Kriminalisierung der Opfer und in deren Folge in einer Nichterkennung rassistischer Tatmotive zur Folge hatte. So wurden in Vernehmungen von Angehörigen wissentlich falsche Anschuldigungen gegen die Mordopfer erhoben, Telefone von Familien ohne erwiesenen Anlass überwacht und private Gespräche im Auto mit Mikrofonen abgehört. Eine umfassende Überprüfung und Neuausrichtung der Ermittlungsarbeit wäre geboten gewesen, als die Ermittlungen im Opferumfeld zu keinem Ergebnis führten.

Wendepunkt im institutionellen Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt

Die tragischen Erkenntnisse aus der Aufarbeitung des NSU-Komplexes müssen zu einem Wendepunkt im institutionellen Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt führen, da sie die Notwendigkeit für einen institutionellen Struktur- und Bewusstseinswandel am deutlichsten sichtbar machen. Damit möglichst alle Menschen gleichberechtigt am gesellschaftlichen und beruflichen Leben teilhaben und die Potenziale dieser vielfältigen Gesellschaft genutzt werden können, benötigt es einen ganzheitlichen institutionellen Struktur- und Bewusstseinswandel, der durch Vielfaltskompetenz und Rassismuskritik gezeichnet ist. Staatliche Institutionen müssen als zentrale Akteure der Transformation Deutschlands hin zu einer gelebten Einwanderungsgesellschaft verstanden und diesbezüglich durch ganzheitliche Konzepte, die Maßnahmen der vielfaltsorientierten und rassismuskritischen Sensibilisierung, des Diversitätsmanagements, des Abbaus von strukturellen Barrieren und der interkulturellen Öffnung enthalten, weiterentwickelt werden. Nur so kann der gesellschaftliche Zusammenhalt einer demokratischen und zukunftsorientierten Einwanderungsgesellschaft auf Dauer sichergestellt werden.