Was braucht eine zukunftsfähige Integrationspolitik? 

Die massiven Flucht- und Wanderungsbewegungen, die Deutschland in den vergangenen Monaten ereilt haben, stellen Staat und Zivilgesellschaft vor enorme HerausforderungenInzwischen haben sich die – zum Teil sehr kontroversen – Debatten zunehmend von der Zuwanderungs- in die Integrationspolitik verlagert. Wie aber kann die Herkulesaufgabe der Integration von mehr al einer Million Neuankömmlingen in Deutschland am besten gelingen? Die Bundesregierung hat Ende Mai ihre Lösung in Gestalt eines Integrationsgesetzes präsentiert, das jedoch auf Seiten zahlreicher zivilgesellschaftlicher Institutionen – darunter auch Deutsch Plus – auf vehemente Kritik gestoßen ist. 

Wie aber sehen mögliche Alternativen aus? 

Bereits im vergangenen Herbst hatte Farhad Dilmaghani als Vorsitzender von Deutsch Plus e.V. in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung dafür plädiert, ein „Staatsziel Vielfalt, gleichberechtigte Teilhabe und Integration“ ins Grundgesetz aufzunehmen. Der Artikel basierte auf einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit Dr. Johannes Eichenhofer. Danach sollte sich die Bundesrepublik Deutschland einen Artikel 20b GG geben, der wie folgt lauten soll: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein vielfältiges Einwanderungsland. Sie fördert daher die gleichberechtigte Teilhabe und Integration. Mit einem solchen Staatsziel würde sich die Bundesrepublik unwiederbringlich als Einwanderungsland definieren und dadurch eine wichtige Standortbestimmung in der Einwanderungs- und Integrationspolitik vornehmen. Ferner würden Staatsziele alle drei Gewalten dazu verpflichten, der Querschnittsaufgabe Integration zu größtmöglicher Wirksamkeit zu verhelfen und integrationsfeindliche Maßnahmen zu unterlassen. Schließlich würden Staatsziele die Rechtspositionen der einzelnen Einwanderer verstärken, da ihre Rechte nunmehr im Lichte des neuen Staatsziels ausgelegt werden müssten. 

Diese Forderung stand im Mittelpunkt einer zweistündigen Diskussionsveranstaltung, die – gemeinsam von Deutsch Plus e.V. und der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) – am Nachmittag des 10. Juni 2016 im Foyer der FES in Berlin stattfand. Es diskutierten unter Moderation von Dietmar Molthagen (FES) der Bundesminister für Justiz und Verbraucherschutz Heiko Maas, die Vorsitzende des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Migration und Integration Prof. Dr. Christine Langenfeld, die Sozialwissenschaftlerin Prof. Dr. Naika Foroutan und der Vorsitzende von Deutsch Plus e.V. FarhaDilmaghani. 

Nach einer kurzen thematischen Einführung von Dietmar Molthagen und Farhad Dilmaghani äußerte der Bundesjustizminister in einem kurzen einführenden Impulsreferat seine Sicht der Dinge. Er betonte, dass es sehr wichtig sei, über Integration zu sprechen und die Zeit dafür gerade richtig sei. Zugleich zeigte er sich gegenüber der Idee eines Staatsziels zurückhaltend und erinnerte dabei an das Staatsziel der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG), das – mit Blick auf die geringe Repräsentation von Frauen in Führungspositionen – kaum Wirkungen gezeigt habe. Maas plädierte also statt für eine Verfassungsänderung für eine einfachgesetzliche Lösung, wie sie etwa das Integrationsgesetz vorsehe. Dieses könne den Einstieg in ein modernes Einwanderungsrecht darstellen. Dabei betonte der Justizminister, dass an dem im Integrationsgesetz angelegten Grundprinzip des „Förderns und Forderns“ nicht zu rütteln sei. Einerseits wolle Deutschland Schutz vor Verfolgung bieten, andererseits müssten die nach Deutschland kommenden Menschen eigene Anstrengungen erbringen, um sich zu integrieren. Dazu gehöre es etwa, die deutsche Sprache zu erlernen und die hier geltenden Werte und Regeln zu respektieren. 

In der anschließenden Diskussion äußerte auch Prof. Langenfeld ihre Skepsis an dem Vorschlag eines Staatsziels „Vielfalt, gleichberechtigte Teilhabe und Integration“. Zunächst solle der Beitrag des Rechts für das Gelingen der Integration nicht überschätzt werden. Außerdem verfüge das Grundgesetz bereits über wirksame Staatszielbestimmungen wie das Sozialstaatsprinzip und eine Vielzahl individueller Freiheitsrechte. Der Text des Grundgesetzes sei schön kurz und das solle auch so bleiben. Auch sei „Integration“ ein „Containerbegriff“, der nichts aussage und deshalb auch kontraproduktive Wirkungen entfalten könne. So könne sich ein Staatsziel für die Einwanderer sogar freiheitseinschränkend auswirken, wenn das Staatsziel zu Lasten der Freiheitsrechte der Einwanderer durchgesetzt würde. Der Bundesjustizminister brachte einen weiteren Aspekt ein. Wichtiger als Staatsziele sei es, über Integration zu sprechen. Auch seien Staatsziele weitestgehend Symbolpolitik, die zudem dazu führen könnten, dass die damit verbundene Aufgabe als „erledigt“ abgetan und wichtige Debatte eingestellt würden.  

Auf der anderen Seite betonte Prof. Foroutan die enorm bedeutsame programmatische Wirkung, die von einem solchen Leitbild ausgehen könnte und erinnerte dabei an das kanadische Leitbild „Diversity in unity“. Farhad Dilmaghani verwies auf die enormen Vorteile eines solches Staatsziels für die dringend notwendige interkulturelle Öffnung der Verwaltung. Einwanderer seien dort immer noch erheblich unterrepräsentiert, vor allem in Führungspositionen. Er erinnerte auch an die wichtige Funktion von Staatszielen, fundamentale gesellschaftliche Herausforderungen zu adressieren und hierfür eine Lösung aufzuzeigen.  

Und in der Tat sprechen viele Gründe für die Aufnahme eines Art. 20b ins Grundgesetz. Die Themen Verfassung und Integration gehören unmittelbar zusammen. Dies hatte bereits der Weimarer Staatsrechtslehrer Rudolf Smend erkannt, für den die Verfassung primär eine Integrationsfunktion hat. Auch mag „Integration“ zwar einen Containerbegriff darstellen. Nichts desto trotz verbindet er eine Vielzahl von zentralen Diskussionen zu einem einzigen Begriff. Der erste Diskussionsstrang betrifft die Frage nach der nationalen Identität, d.h. die Fragen: Wer sind „wir“? Wer gehört zum „wir“? Was macht „uns“ aus? 

Der zweite Diskussionsstrang betrifft das  Spannungsverhältnis zwischen Vielfalt und sozialer Kohärenz. Drittens umfasst mit Integration die Frage nach gleichberechtigter Teilhabe. Gerade Letzteres kann nur durch Recht geregelt werden. Recht kann Partizipation also einerseits verhindern, andererseits aber auch ermöglichen. Wenn Einigkeit darüber besteht, dass Integration eine Querschnittsaufgabe ist, wird deutlich: Es reicht nicht, gleichberechtigte Integration in einem einzigen Gesetz (z.B. einem Integrations- oder auch Einwanderungsgesetz) festzuschreiben. Vielmehr muss der Integrationsgedanke umfassend und von allen drei Staatsgewalten berücksichtigt werden. Da es gegenwärtig jedoch an einem verfassungsrechtlichen, alle Staatsgewalten verpflichten Integrationsbegriff fehlt, legen die Gewalten den Begriff nach freiem Belieben aus. Dies bringt nicht nur ein hohes Maß an politischer Inkohärenz, sondern kann für die Einwanderer ein enormes Maß an Rechtsunsicherheit mit sich bringen, wenn etwa Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte nach „freiem Belieben“ darüber entscheiden können, ob ein Einwanderer als integriert gelten darf oder nicht. 

Das zeigt auch die aktuelle Diskussion um das Integrationsgesetz. Gleichzeitig besteht die Gefahr eines Umschlagens von einem positiv in einen negativ besetzten Integrationsbegriff wohl nur theoretisch, da sich das Staatsziel und seine Interpretation in das Wertegefüge des Grundgesetzes einfügen müsste. Danach wäre eine auf Assimilation setzende Integrationspolitik schon von vorneherein ausgeschlossen, da das Grundgesetz aufgrund seiner Freiheitsrechte ein Assimilationsverbot kennt. Gleichzeitig müsste sich das Staatsziel positiv zu den im Grundgesetz enthaltenen Recht auf Gleichbehandlung (Art. 3 GG) und zum Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) verhalten. So würde das Staatsziel auch die von Farhad Dilmaghani benannte Repräsentationslücke schließen helfen, die letztlich darauf beruht, dass Menschen mit Migrationshintergrund aber auch de facto immer noch weniger politische Mitspracherechte haben.  

Die intensiven und leidenschaftlichen Diskussionen haben gezeigt, dass die Idee des Staatsziels gegenwärtig aus Sicht der Politik zwar noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Nichts desto trotz ist die Idee nun in den wissenschaftlichen und politischen Betrieb eingespeist worden. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich die Idee weiterentwickeln wird. DeutschPlus wird diese Debatte weiter befördern.